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Kompost für den Alltag


Ankommen

»Bei uns geht man davon aus, dass die Zeit vergeht. 95 % der Erdbevölkerung geht nicht davon aus, dass die Zeit vergeht, sondern die Dinge wiederholen sich zyklusartig. Das heißt, wenn ich etwas jetzt verpasse, kommt es wieder.«
Mehrnousch Zaeri-Esfahani
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In dem total interessanten Gespräch auf Deutschlandradio Kultur erzählt Zaeri-Esfahani, die 1985 als Zehnjährige mit ihren Eltern und Geschwistern aus Iran nach Deutschland geflohen ist, u. a. von ihrer Arbeit in der Flüchtlingsbetreuung.
Im Peter Hammer Verlag ist 33 Bogen und ein Teehaus erschienen, in dem Mehrnousch Zaeri-Esfahani ihre Kindheit in Isfahan und ihr Ankommen in Heidelberg beschreibt. Das Jugendbuch, das sie für alle, nicht nur für Jugendliche, geschrieben hat, wurde bereits vielfach ausgezeichnet. Illustriert hat es ihr Bruder Mehrdad Zaeri-Esfahani.
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Meine zweite Empfehlung ist The Improbability of Love von Hannah Rothschild, auf der Shortlist zum Baileys Women’s Prize for Fiction 2016, bei der Deutschen Verlagsanstalt unter dem Titel Die Launenhaftigkeit der Liebe erschienen. Schauplatz ist London, genauer gesagt die dortige Kunst- und Kunstmarktszene, wo ein wieder aufgetauchtes Gemälde für Aufregungen sorgt. Sehr spannend, ein ganz bisschen romantisch und auch die Perspektive des Gemäldes – moi – kommt nicht zu kurz.

Apropos Lesen fand ich die Jahrestagung der BücherFrauen zum Thema »Lesekultur 2030« neulich in Berlin ausgesprochen anregend. In ihrem Impulsvortrag plädierte die Verlegerin Britta Jürgs überzeugend für Biodiversität auch in der Bücherwelt. »Bibliodiversität steht für eine Literatur, die nicht kurzfristige Trends bedient, sondern neue Denkansätze und Sichtweisen hervorbringt.«
Der ganze Vortrag ist hier nachzulesen.

Was es nicht noch alles gibt. Und was man alles noch nicht kennt. Zum Beispiel kannte ich die Kennedy Center Honors nicht. Die Amerikaner beherrschen nicht nur die Kunst der großen Inszenierung, sondern auch die der großen Wertschätzung. Alljährlich werden Künstler_innen für ihr Lebenswerk ausgezeichnet, bereits seit 1978, so auch vorgestern. Besonders bewegend finde ich diesen Auftritt von Sting zur Verleihung an Bruce Springsteen 2009 und den Auftritt von Aretha Franklin zu Ehren von Carole King 2015. Man kann neben den Ausgezeichneten in der Loge übrigens die Obamas beobachten und fragt sich: Wie wird das mit den Trumps sein?
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Nun schwärme ich nicht gerade für Heinz Strunk, bin aber quasi ein Fan von extra 3. Heinz Strunk widmet sich in seinem Beitrag der Frage, was Populismus eigentlich bedeutet, und kommt u. a. zu dieser Erkenntnis: »Wer das Wort Problem untersucht, stellt fest, dass pro ja eigentlich für heißt. Probleme sind also für uns gemacht und nicht gegen uns, sonst hießen sie ja Antibleme.«
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Wer in diesen unruhigen Zeiten dem Populismus etwas entgegensetzen möchte, findet überall Menschen, die nicht zynisch werden, die sich für unsere Freiheit engagieren, die Mut machen. Eine Anlaufstelle im Internet ist zum Beispiel AUFSTEHEN GEGEN RASSISMUS.
Und es gibt Künstler_innen wie Pipilotti Rist, die dem Grauenvollen Kreativität und Schönheit entgegensetzen.
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»Ich bin ein großer Fan davon, die Freude, die Leichtigkeit zu beschwören. Denn das Gegenteil davon stellt sich automatisch ein.«
Pipilotti Rist (Schweizer Videokünstlerin, *1962)


etwas lachenden Mut

Vor drei Wochen wurde der diesjährige Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wie schon erwähnt an Carolin Emcke verliehen. In ihrer Dankesrede [als Skript] spricht sie in sehr persönlichen, klaren Worten über Angehörigkeit und Zugehörigkeit, über Verrohung, Diffamierungen, über Toleranz:

»Das ist die soziale Pathologie unserer Zeit: dass sie uns einteilt und aufteilt, in Identität und Differenz sortiert, nach Begriffen und Hautfarben, nach Herkunft und Glauben, nach Sexualität und Körperlichkeiten spaltet, um damit Ausgrenzung und Gewalt zu rechtfertigen.«

Bei youtube ist die Aufzeichnung ihrer Rede nachzusehen. Carolin Emcke schließt mit den Worten:

»Wir können immer wieder anfangen. Was es dazu braucht?
Nicht viel: etwas Haltung, etwas lachenden Mut und nicht zuletzt die Bereitschaft, die Blickrichtung zu ändern, damit es häufiger geschieht, dass wir alle sagen: Wow. So sieht es also aus dieser Perspektive aus.«

Der National-Geographic-Film Before the Flood mit Leonardo di Caprio ist ein Appell, dem Klimaschutz entschiedener zu begegnen. Noch bestehe Hoffnung. Der Dokumentarfilm ist auf youtube und anderen Plattformen frei zugänglich.

before_the_flood_greenland1    Grönland schmilzt dramatisch
Grönland schmilzt dramatisch

Dass noch Hoffnung besteht, könnte auch die Botschaft der UN-Klimakonferenz sein, die in diesen Tagen in Marrakesch stattfindet.
Doch wir müssen anfangen, unsere Lebensweisen entscheidend zu ändern.
»We have to take action«, sagt Barrack Obama in Before the Flood [ab 1:12]. Bei der Weltklimakonferenz 2015 in Paris sind von 195 Staaten konkrete Klimaziele beschlossen worden. Nun wird in Marrakesch die Finanzierung von »Anpassungsstrategien« verhandelt. Es geht ums Geld.

Zeit Online zitiert die Bundesumweltministerin Barbara Hendricks: »Manche scheinen immer noch zu glauben, Klimaschutz sei allein das Vergnügen der Umweltministerin.«
Mit »manche« sind wohl vor allem die beiden CSU-Minister für Verkehr und Landwirtschaft gemeint.
»Die Landwirtschaft in Deutschland trägt maßgeblich zur Emission klimaschädlicher Gase bei«, so das Umweltbundesamt im April 2016.  Ein Machtwort der Kanzlerin blieb bislang leider aus.

Wer noch mehr Gründe braucht, weniger Fleisch zu essen:

cover_foer_tiere   Tiere denken von Richard David Precht   cover_duve_essen

Jonathan Safran Foer, Tiere essen
Richard David Precht, Tiere denken: Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen
Karen Duve, Anständig essen. Ein Selbstversuch

Bei diesem Kürbissalat kann man schon mal vergessen, dass kein Fleisch auf dem Tisch steht.
Das Rezept als PDF.

kuerbissalatzutaten    kuerbissalat

Zum Schluss noch eine Prise Optimismus von Heinz Erhardt

Im Herbst bei kaltem Wetter
fallen vom Baum die Blätter –
Donnerwetter!
Im Frühjahr dann
sind sie wieder dran –
sieh mal an.


beschränkt

»Ach, die Welt ist so geräumig, und der Kopf ist so beschränkt!«
Wilhelm Busch

beschränken – mittelhochdeutsch beschrenken »umklammern, versperren«, althochdeutsch biscrenken »zu Fall bringen«; vom neuhochdeutschen Sprachgefühl … steht das 2. Partizip beschränkt seit Anfang des 19. Jhs. für geistig eng, unfähig«. DUDEN 7, Das Herkunftswörterbuch

Um nicht irre zu werden in dieser »geräumigen Welt«, die über diverse Kanäle zu uns ins Wohnzimmer drängt, ist sicher ein guter Rat: Nimm Dir zum Beispiel 10 Minuten täglich Zeit für eine Achtsamkeitsübung.

Jon Kabat-Zinn, quasi der Erfinder des Mindfulness-Based Stress Reduction-Programms, empfiehlt eine würdevolle Sitzhaltung und, sich beim Atmen zu beobachten. So einfach. Sat – Nam. Einatmen SAT [behutsam] – Ausatmen NAM [geduldig].

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Still aus dem Trailer zur Sendung Sternstunde Philosophie des Schweizer Fernsehens

Wem das Atmen zu einfach ist: Auf youtube finden sich jede Menge Achtsamkeitsübungen, außerdem erhellende Gespräche mit Jon Kabat-Zinn. Letztlich geht es auch ihm darum, dass die Welt durch unser geändertes Verhalten eine bessere wird. In einem Interview sagt er: »Die Frage ist: In welche Richtung entwickelt sich das System? Richtung Habgier oder Richtung Weisheit?«

Zurück in die Region: Vor zwei Wochen war ich in der Hamburger Fabrik  und habe Suzanne Vega erlebt, die ich schon vor 30 Jahren rauf- und runtergehört habe. Sehr cooles Konzert. Arte hat ihren Auftritt in Berlin aufgezeichnet, eine Stunde davon ist in der Mediathek nachzusehen bis zum 5.11.2016.

Ihr neues Album »Lover, Beloved: Songs From An Evening With Carson McCullers« ist vor 5 Tagen erschienen. We of Me [auf vevo] habe ich seitdem schon ein paar Mal im Radio gehört. Sie sei schon immer fasziniert gewesen von der amerikanischen Schriftstellerin McCullers (1917-1967), sagt Suzanne Vega und nennt sie eine Seelenverwandte. Die Ähnlichkeit ist doch verblüffend, oder? Im Frühjahr 2017 hat das Stück mit ihr als Carson McCullers in New York Premiere.
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Die Romane von Carson McCullers (Die Ballade vom traurigen Café, Frankie u. a.) sind in deutscher Übersetzung bei Diogenes erschienen.

Wer sich weniger für die USA als für Süditalien begeistern kann, denen empfehle ich Meine geniale Freundin oder auch My Brilliant Friend.
Für alle, die der Hype um Elena Ferrante und ihre Enttarnung nicht interessiert und die einfach nur eine sehr gut geschriebene Geschichte über das Neapel der 50er Jahre lesen möchten. Angeblich ist die englische Übersetzung aus dem Italienischen gelungener als die deutsche. Who knows?

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Mit Paula Fürstenberg wäre noch eine junge deutsche Schriftstellerin zu entdecken, deren Debüt Familie der geflügelten Tiger im August erschienen ist. »In einer Familie gibt es keine Wahrheit, es gibt nur Geschichten« ist der Roman überschrieben. Johannas Vater Jens ist kurz vor dem Ende der DDR verschwunden, da war sie noch ganz klein. Erst mit Ende Zwanzig erfährt Johanna von anderen Lesarten dieser Flucht, die sich von der ihrer Mutter doch stark unterscheiden.

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Saure Äpfel

Carolin Emcke, die im Oktober wie schon erwähnt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält, hat am 13. August in Bochum die Festspielrede zur Eröffnung der Ruhrtriennale 2016 gehalten, unter dem Titel »Vom Übersetzen«.
Nachzulesen ist diese wie ich finde in ihrer Deutlichkeit herausragende und überhaupt eindrucksvolle Rede auf der Website der Ruhrtriennale.
Carolin_Emcke_Festspielrede_2016
Carolin Emcke stellt Fragen wie: »Seit wann wurde ein ›guter Mensch‹ zu etwas, das diffamiert und bespottet werden kann? Seit wann muss man sich für selbstverständliche Freundlichkeit anderen gegenüber, für Differenzierung zwischen Individuen und Kollektiven oder auch nur selbstkritische Nachdenklichkeit entschuldigen? Seit wann?«
Am Ende ihrer Rede erzählt sie eine Geschichte, denn: »Es braucht Erzählungen davon, wie die Freiheit schmeckt, wie die Gleichheit sich anfühlt, wie die Brüderlichkeit klingt.«
Auch auf youtube gibt es das Video von der Rede, zunächst die Einführung von Festspiel-Intendant Johan Simons, ab Minute 8 ist Carolin Emcke zu sehen.

Apropos Buchmesse: Letzte Woche hat die Jury für den Deutschen Buchpreis, der am 17. Oktober in Frankfurt zum 12. Mal verliehen wird, die Longlist der nominierten Belletristik-Neuerscheinungen 2016 bekannt gegeben – 20 Romane von 14 Autoren und 6 Autorinnen. Die Website bietet eine übersichtliche Übersicht, sogar mit Hörproben.

Unter den Romanen, die es nicht auf diese Longlist geschafft haben, uns bei der Vorbereitung zum nächsten LiteraturBrunch der Hamburger BücherFrauen aber positiv aufgefallen ist, sind diese drei Debüts:
Cover_Bazyar_Nachts   Cover_Khayate_Woanders   Cover_Winkler_Blauschmuck
Jeweils sehr eindrückliche Entwicklungsgeschichten vor dem Hintergrund „Orient – Okzident“:

Shida Bazyar, Nachts ist es leise in Teheran (Kiepenheuer & Witsch)
Das Leben einer Familie von 1979 bis heute, zwei Generationen in Iran und in Deutschland, aus unterschiedlichen Perspektiven herausragend und überzeugend erzählt.

Rasha Khayat, Weil wir längst woanders sind (Dumont)
Basil besucht seine Schwester Layla in Saudi-Arabien, die dorthin zurückgekehrt ist, dort heiraten und bleiben wird, und er fragt sich: Warum?

Katharina Winkler, Blauschmuck (Suhrkamp)
Die Autorin erzählt von der jungen Kurdin Filiz, nach einer wahren Liebes- und Leidensgeschichte, krass und dabei sehr poetisch.

Wer Anfang des Jahres den Dokumentarfilm Hello I am David! von Cosima Lange im Kino verpasst hat: Gestern ist die DVD erschienen.
David_Helfgott
David Helfgott, Jahrgang 1947, war ein Wunderkind am Klavier und lebte als junger Mann nach einem Nervenzusammenbruch elf Jahre lang in einer psychiatrischen Klinik. Den US-amerikanischen Regisseur Scott Hicks inspirierte David Helfgotts Lebensgeschichte zu dem Oscar-prämierten Film SHINE – Weg ins Licht (1996). Dieser Film – in den Hauptrollen Geoffrey Rush und Armin Müller-Stahl, ebenfalls unbedingt empfehlenswert – scheint im Moment nur als Blu-ray lieferbar zu sein.
Für Hello I am David! hat die Regisseurin Cosima Lange den australischen Ausnahmepianisten 2015 auf seiner Konzertreise durch Europa begleitet und mit Menschen gesprochen, die ihm nahe stehen. Mehr Informationen über diesen großartigen, inspirierenden Film bei good!movies.

»I play in the spirit of the joy of giving, caring, sharing and love. Music is my passion and fills my life.«  David Helfgott

Eine meiner Leidenschaften neben dem Bücher-Lesen ist Backen. Und weil es grad so herrlich saure Äpfel gibt, hier exklusiv das Rezept für einen meiner Lieblingskuchen: Mohn-Quark-Apfel-Torte (als PDF). Unser Apfelbaum (Foto von 2015) hat in diesem Jahr leider nur zwei Äpfel getragen …
Unser_Apfelbaum_0915
Dafür gab es mehr als 5 Kilo Brombeeren – was für eine Ernte (leider ohne Foto).
Und ganz zum Schluss noch ein Blick in unsern kleinen Gartenteich: Zwei Teichfrösche haben ihren Lieblingsplatz an der Sonne gefunden, in Lennarts Water-Starlet-Wasser-Springbrunnen.

Teichfroesche_II_2016  Teichfroesche_2016


Kein guter Ratgeber

Wir hören in diesen Wochen viel über Angst. Und erfahren, wie viel wahrscheinlicher es ist, bei einem Autounfall ums Leben zu kommen als bei einem Terroranschlag. Hierzulande jedenfalls. »Meine Angst kriegt Ihr nicht!«, denke ich manchmal zitierend, auch in Anbetracht der teils hysterisierenden Berichterstattung.

Junge Engagierte haben in Münster eine Online-Plattform für »Kontruktiven Journalismus« entwickelt. Seit dem 16.3.2016 bin ich Mitglied, #9.815. Eine Crowdfunding-Aktion hat bis Ostern 2016 die erforderlichen 12.000 Unterstützer_innen für die Umsetzung des Projekts gefunden: Perspective Daily. Zum Probelesen einen Artikel zum Thema: Nur wenn wir Angst zulassen, können wir mutig sein.

Mutig finde ich Anna Magdalena Bössen, von der ich letzte Woche auf Deutschlandradio Kultur (genau – mein Lieblingssender) zum ersten Mal gehört habe. Die studierte Rezitatorin ist 2015 mit dem Fahrrad durch Deutschland gefahren und hat, gegen Kost und Logi, Gedichte rezitiert. Im Gespräch mit Katrin Heise vom 28.7.2016 erzählt sie nicht nur von ihren Erfahrungen auf dieser Reise.

Anna Magdalena Bössen brennt, wie sie sagt, für die Frage: Wie wollen wir leben? Sie suche Möglichkeiten, Menschen miteinander zu verbinden. »Diese Welt, die so im Umbruch ist, die braucht eine Gemeinschaft, zumindest ein gemeinschaftliches ›Wir wollen das lösen.‹«

Zu Zeiten König Davids gab es Gefahren, die sicher lebensbedrohlicher waren als das, was uns heute Angst macht. Von seinem Gottvertrauen schreibt David im Psalm 23. Der Herr ist mein Hirte. Ein Auszug:

Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal,
fürchte ich kein Unglück.
Dein Stecken und Stab trösten mich.

Er erquicket meine Seele_Psalm23

Ganz besonders mag ich die Version dieses Psalms von Bobby McFerrin: Bobby McFerrin – The 23rd Psalm, hier gesungen vom Vokalensemble Cantus. Ein Auszug:

She restores my soul,
She rights my wrongs,
She leads me in a path of good things,
And fills my heart with songs.

Zurück zu den Büchern. Seit 12 Jahren schon führe ich ein »Gelesen-Buch«. Ich vergebe zwei bis drei Sternchen, je nachdem, wie sehr mir das Buch gefallen hat.
Gelesen-Buch_2016
Das hilft dem Gedächtnis auf die Sprünge. Die Bücher, denen ich weniger als zwei Sternchen geben würde, lese ich natürlich nicht zu Ende. Zu kostbar die Lese- und Lebenszeit.
Beim Durchblättern des Gelesen-Buchs auf der Suche nach einem Roman, den ich Euch noch besonders ans Herz legen möchte, habe ich diese drei Titel gefunden, die ich unter »sehr gute Unterhaltung« einsortieren würde:
Cover_Hartlieb_Buchhandlung Cover_Simonson_MrsAlis Cover_Ruge_Zeiten
Petra Hartlieb, Meine wundervolle Buchhandlung
Einblicke in den Alltag einer leidenschaftlichen Buchhändlerin. Habe ich schon mal empfohlen, nicht ohne Grund. Inzwischen liegt die Taschenbuch-Ausgabe vor.

Helen Simonson, Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
Wunderbar, dass der »Major«, Ernest Pettigrew, nicht alle seine Probleme allein bei einer Tasse Tee lösen kann.

Eugen Ruge, In Zeiten des abnehmenden Lichts
Eine herausragende Familiengeschichte, 2011 ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis.

LESEN HEISST: SICH WÄRMEN AN FREMDEN FEUERN.
Gotthold Ephraim Lessing


utopisch?

Utopie, aus dem Altgriechischen – der Nicht-Ort
Heutzutage wird Utopie laut Wikipedia »auch als Synonym für einen von der jeweils vorherrschenden Gesellschaft vorwiegend als unausführbar betrachteten Plan, ein Konzept und eine Vision« benutzt.
Anders gesagt: Utopisch bleibt ein Idee, wenn alle, die sie im Prinzip super finden, nicht vom Sofa hochkommen.

IT IS TIME TO FACE THE TRUTH NOW …
SO PULL UP YOUR SLEEVES
MAKE A MOVE, DO SOMETHING, WE NEED …

singt Fredrika Stahl in dem französischen Dokumentarfilm Tomorrow. Die Welt ist voller Lösungen von Cyril Dion und Mélanie Laurent.
Cover_Tomorrow_CD
Tomorrow erzählt von zehn großartigen regionalen Projekten auf der ganzen Welt, die es zwar nicht in die Tagesschau schaffen, aber viel Mut machen. In beeindruckenden Bildern und Gesprächen. Nicht verklärt, doch hoffnungsvoll. Verstärkt von, wie sagt man so schön, kongenialer Filmmusik der Komponistin und Sängerin Fredrika Stahl. Der Song More daraus bei youtube.

HOW MUCH DO YOU NEED?
SAY HOW MUCH MORE?

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Die Filmemacher_innen zeigen, wie regionale Währungen funktionieren, wie effizient Permakultur, wie resistent altes Saatgut, wie nachhaltig Bildung sein kann und öffnen damit unsere Augen. Ob Tomorrow, der seit dem 2. Juni in den Kinos läuft, in Eurer Stadt noch zu sehen ist, erfahrt Ihr hier.

Eine tolerante Gesellschaft ist wohl auch eine Utopie, oder?
Als neulich bekanntgegeben wurde, wer in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält, habe ich mich gefreut. Carolin Emcke  – was für eine ausgezeichnete Wahl! Ich bin schon gespannt auf ihre Rede am 23. Oktober in der Frankfurter Paulskirche. Wer sie vorab ein wenig kennenlernen, ihr zuhören möchte – auf der re:publica’16 TEИ hat Philip Banse die kluge Publizistin zum Thema Hass befragt. Link zum 23-minütigen Video auf youtube.

Bereits vor zwei Jahren hat Carolin Emcke gemeinsam mit der Regisseurin Angelina Maccarone drei kurze Video-Clips gedreht: Tolerant? Sind wir selber. »Eine fröhliche Irritation, wie ein Kieselstein im Schuh der Öffentlichkeit«, so steht es auf der Website der Heinrich Böll Stiftung.
Lustig, genial, entlarvend, finde ich.

Vor den obligaten Tipps zu meinem liebsten Medium ein total aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat der 18-jährigen Carla O.: »Diese Vintage-Sachen wie Bücher«.

Empfehlen möchte ich Joachim Meyerhoff. Er ist nicht nur ein großartiger Schauspieler – in Hamburg ist er noch mal zu erleben am 31.5.2017 in Molières Die Schule der Frauen  –, sondern auch ein begnadeter Erzähler.
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In Alle Toten fliegen hoch. Amerika fabuliert er von seinem Austauschjahr in Laramie, Wyoming, und seine Kindheit erinnert (oder erfindet?) er in Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war. Beim Lesen beider Bücher habe ich mich sehr amüsiert, laut gelacht, leise geweint, was will man mehr?
Zum dritten Band Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke schreibt der Verlag Kiepenheuer und Witsch: »Joachim Meyerhoff hat seine Kunst, Komik und Tragik miteinander zu verbinden, noch verfeinert. Sein Held nimmt sich und seine Umwelt immer genauer wahr und erkennt überall Risse, Sprünge, Lücken.«

Also, runter vom Sofa, ab ins Kino, ins Theater, in den Buchladen …


nicht ganz fertig

»An das Gute glauben nur die wenigen, die es üben.«
Marie von Ebner-Eschenbach

Margot Käßmann sprach in einem Interview davon, dass unsere Ablenkungsgesellschaft kaum noch Stille kenne. Sie meint: »Wir brauchen Auszeiten, die uns kreative Kraft schöpfen lassen.«
Aus: Entrüstet Euch! Warum Pazifismus für uns das Gebot der Stunde bleibt. Texte zum Frieden, herausgegeben von Margot Käßmann und Konstantin Wecker.

Eine meiner liebsten Verschwörungstheorien ist ja, dass die Menschen, die Arbeit haben, viele Überstunden machen sollen, damit sie zu erschöpft sind, sich in ihrer freien Zeit noch für eine gute Sache zu engagieren oder sonstwie unbequem zu werden. Meine Empfehlung: täglich 5 Minuten Nichtstun, Einatmen, Ausatmen, INNEHALTEN, auf neue Ideen kommen.
Ein Beispiel:

Josie: »Na, was hast Du heut den ganzen Tag gemacht?«
Sid: »Gar nichts.«
Josie: »Haste doch schon gestern gemacht.«
Sid: »Ich bin nicht ganz fertig geworden.«

Sascha Grammel (mit Schildkröte Josie) und Otto Waalkes (die Stimme von Faultier Sid in Ice Age) zu seinem Bühnenjubiläum 2015 [von min. 6:00 bis 6:20]

Als Zugeständnis zur derzeitigen EM-Euphorie noch ein Rezept nach Yotam Ottolenghi: FOUL.
250 g weiße Bohnen über Nacht einweichen, etwa 30 Minuten weich kochen, salzen, zerstampfen oder pürieren. 75 ml Olivenöl einrühren, dazu den Saft einer Zitrone, zwei gepresste Knoblauchzehen und 1 Teel. gemahlenen Kreuzkümmel.
Perfekt als Beigabe zu diversen Gemüsen.
Mehr Rezepte in dem Kochbuch von Ottolenghi Genussvoll vegetarisch.

Ganz genau, und außerdem bereichern Bücher unser Leben. Darum noch dieser Buchtipp für alle, die Gute Geister/The Help von Kathryn Stockett noch nicht gelesen haben:
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Kathryn Stockett erzählt in ihrem Roman, der in den 60er Jahren in Jackson/Mississippi spielt, von drei mutigen Frauen, die sich nicht abfinden mit Rassismus, Vorurteilen und Ungerechtigkeiten, sondern das Leben in ihrer Stadt verändern.
Eines der Bücher, mit denen wir üben können, an das Gute zu glauben.


Brot und Spiele

»Noch ist der Drop nicht gelutscht!«
Na, was habe ich neulich gehört? Richtig! Die Live-Übertragung eines Auswärtsspiels vom FC St. Pauli auf sport1. Die eine »1000-prozentige Möglichkeit« wurde leider nicht genutzt – herrlich, diese sprachgewitzten Fußball-Kommentatoren!

Aber man kann sich ja nicht nur ablenken. Ab und an muss man der Realität ins Auge sehen. Bis zu 24 Prozent für die AfD bei den Landtagswahlen im März. Auf Spiegel online findet sich eine sehr gute Übersicht [vom 14.3.2016] über die erschreckend großen Landtagsfraktionen der erst drei Jahre alten Partei.

Das NDR-Satire-Magazin extra3 hat es mal wieder geschafft, dem Ernst der Lage eine unterhaltsame Seite abzugewinnen. Ich fand den Beitrag über die Partei Aufmerksamkeit für Dackel jedenfalls sehr lustig [vom 4.5.2016, Länge 2:32]. Diese AfD ist beispielsweise gegen Zecken (vor allem linke) und für eine Schweinefleischpflicht im Hundefutter.

Bitterernst dagegen der Beitrag »Die neuen Rechten« in der Kulturzeit vom 9.3.2016, bei dem es mir mehrfach kalt den Rücken runtergelaufen ist  [Länge 16:30]. Der Verleger Götz Kubitschek ist einer der prominentesten Vertreter dieser rechten Bewegung. Armin Nassehi, Professor für Soziologie in München, hat mit Kubitschek einen Briefwechsel geführt und diesen bereits 2015 in Die letzte Stunde der Wahrheit veröffentlicht.

Eines der besten Bücher, die ich überhaupt gelesen habe, ist Sieben Sprünge vom Rand der Welt von Ulrike Draesner, im Januar als Taschenbuch bei btb erschienen.
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In dem 560 Seiten starken(!) Roman lässt Ulrike Draesner vier Generationen zu Wort kommen. Ihre Figuren erzählen auf ganz unterschiedliche Weise von ihrer Wirklichkeit, sprechen und schweigen vom Krieg und den Nachwirkungen von Flucht bis in die Urenkelgeneration. Schreckliches ist kaum zu ertragen, Schönes und Skurriles berührend beschrieben. Vor allem Ulrike Draesners kunstvolle Art, die Schicksale und Beziehungen von zwei Familien spannend miteinander zu verweben, haben mich tief beeindruckt.

Zum guten Schluss noch ein Blick in meine »veganisierte« Küche:
Cashew-Moehren-Brotaufstrich_Zutaten
Cashew-Möhren-Brotaufstrich
100 g Cashewkerne in 40 ml Kokosöl unter ständigem Rühren leicht anrösten.
2 große geraspelte Möhren zugeben und kurz mitdünsten lassen.
1 Teel. Curry einrühren, mit 100 ml Gemüsebrühe ablöschen, aufkochen lassen, Herd ausstellen.
2 bis 3 Essl. Zitronensaft zugeben, salzen und pfeffern und zu einer streichfähigen Masse pürieren.
Der Aufstrich hält sich etwa 1 Woche im Kühlschrank. Mit Gemüsebrühe verlängert, eignet er sich hervorragend als Topping auf diversen Gerichten.


Mut zur Bescheidenheit

»Demut ist eine Stärke«, sagte Stella Deetjen letzte Woche, am 8.4.2016, im Gespräch auf Deutschlandradio Kultur. Als Zwanzigjährige reiste sie nach Indien, blieb dort und engagiert sich seitdem für Leprakranke und andere Hilfsbedürftige, auch in Nepal – sehr beeindruckend. Vor bereits 20 Jahren gründete sie den Verein Back to Life.
Ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie aus der Initiative Einzelner große Hilfsprojekte werden können. Mit ihrem Buch Unberührbar – Mein Leben unter den Bettlern von Benares ist sie grade auf PR-Tour in Deutschland. Der direkte Link zur Spendenseite.

Das Wort Demut begleitet mich seit meiner Schulzeit und hat dank unserer Deutschlehrerin damals einen sehr positiven Beiklang – wie altertümlich das Wort auch erscheinen mag. Der Duden erklärt Demut so: »… in der Einsicht in die Notwendigkeit und im Willen zum Hinnehmen der Gegebenheiten begründete Ergebenheit.« Naja …
Das englische Wort für Demut humility sowie das französische humilité werden auch übersetzt mit Bescheidenheit. In Demut steckt MUT. Der Mut, etwas anders zu leben, weniger auf Kosten anderer, mit mehr Rücksicht auf die Natur, auf andere Lebewesen und Mitgeschöpfe [zu denen auch die männlichen Küken zählen übrigens].

Für meine kleine Serie Vielleicht ein Vorbild? fällt mir David Steindl-Rast ein: Benediktinermönch, Vortragsreisender und Eremit, Jahrgang 1926. Eine Begegnung mit ihm – auf gratefulness.org, bei youtube oder in einem seiner Bücher, lohnt sich. Von seinem TED-Vortrag Want to be happy? Be grateful [14 min.] geht mir grad nicht aus dem Kopf, was er zum Moment sagt, zu jedem Augenblick, in dem wir uns neu entscheiden können, was wir tun. Die Anleitung zum Glücklichwerden, sagt er, sei so einfach wie die zum Verhalten im Straßenverkehr: Stop. Look. Go.
Innehalten hilft dabei.

Bücherlesen ebenfalls. Inzwischen einige der Textbeet-Empfehlungen aus dem letzten und vorletzten Jahr als Taschenbuch erschienen. Wer also grad eine anregende Lektüre [je 10 €] sucht:

Cover_Adichie_Americanah_TB    Cover_Petrowskaja_Vielleicht_TB    Cover_Koehler_Raketen_TB

Weitere Informationen zu den Büchern auf den Seiten der Verlage Fischer, Suhrkamp und dtv:
Chimamanda Ngozi Adichie, Americanah
Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther
Karin Köhler, Wir haben Raketen geangelt


ausweichen

ich weiß
daß ich oft oder meistens
ausweichen will

Ich weiß auch
daß das verständlich ist
denn ich will leben

Aber ich weiß nicht mehr
ob man leben bleibt
wenn man ausweicht

Erich Fried  (1921–1988)

Dieses Gedicht fand ich vorgestern im „wandeln“, dem Fastenwegweiser 2016 von Andere Zeiten.
Beim Lesen fühle ich mich ertappt. Ausweichen gehört auch zu meinen Strategien. Und ich denke grad: Genau, was ist das für ein Leben, wenn wir so oft weggucken, verdrängen, abtauchen? Klimakatastrophe, Finanzkrise, Kriegswirren … Wir möchten es doch bitte einfach nur weiterhin so komfortabel haben hier in diesem schönen Deutschland. In einem Land, auf das wir gewiss keinen Exklusiv-Anspruch haben. Schlicht Glück, hier geboren zu sein. Inklusive dem Glück, dass wir in diesen Breitengraden voraussichtlich kaum vom Klimawandel betroffen sein werden.  Nicht direkt jedenfalls.

Die kenianische Umweltaktivistin Wangari Maathai (1940–2011) erhielt 2004 für ihr Engagement den Friedensnobelpreis.
Sie sagte: »Those of us who witness the degraded state of the environment and the suffering that comes with it cannot afford to be complacent. We continue to be restless. If we really carry the burden, we are driven to action. We cannot tire or give up. We owe it to the present and future generations of all species to rise up and walk!«
Mehr unter nobelwomensinitiative.org

»Rise up and walk« für den Frieden – eine nächste Gelegenheit dazu ist der Ostermarsch in zwei Wochen. »Rüstungsexporte stoppen«, »Fluchtursachen bekämpfen.« … In Hamburg geht die Demonstration am Ostermontag um 12 Uhr von der Erlöserkirche am Berliner Tor zum Carl-von-Ossietzky-Platz/Lange Reihe, wo ab 14 Uhr ein Friedensfest gefeiert wird. »Rise up and walk« – besser als ausweichen und den Kopf in den Sand stecken.

Dabei fällt mir wieder das Gespräch mit Inge Jens letzte Woche auf Deutschlandradio Kultur ein. Die Publizistin Inge Jens (89) ist eine beeindruckende Frau, die so couragiert und klar redet, dass ich nur empfehlen kann, diese Begegnung am 10.3. mit Katrin Heise „Im Gespräch“ nachzuhören. Apropos friedenspolitisches Engagement: Inge Jens hat mit ihrem Mann Walter an Sitzblockaden in Mutlangen gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen teilgenommen und dafür hohe Geldstrafen gezahlt. Womit ich wieder beim diesjährigen Ostermarsch wäre – weniger kostspielig, soweit ich weiß.

Zum Schluss noch die obligate Buchempfehlung. Diesmal keine Neuerscheinung, sondern mein sozusagen Lieblingsbuch: Lily Brett, Chuzpe (Aussprache: ch wie in lachen, u betont und kurz). Der Originaltitel: You Gotta Have Balls. Denn Edek, Vater der Romanheldin Ruth Rothwax, plant gemeinsam mit seinen polnischen Freundinnen ein Klopse-Restaurant zu eröffnen.

Cover_Brett_Chuzpe       Cover_Brett_Balls1                   Cover_Brett_Uncomfortably       Cover_Brett_Balls2

Inzwischen lautet der Titel der englischen Ausgabe bei Harper Collins allerdings – warum eigentlich? – Uncomfortably close. Während die englische Ausgabe bei Pan Macmillan Australia weiterhin s. o.
»Dieses Buch ist ein wahres Vergnügen, eine schräge, herzerfrischend lustige jüdische Komödie, auf die sich Brett so glänzend versteht.« Manly Daily, Sydney